2.2.10

So viele Türmchen

Praha

Einen Reisebericht bin ich noch schuldig. Und es hat eine Weile gedauert, die richtigen Worte zu finden. Zufrieden bin ich immer noch nicht. In Helsinki sind mir sofort Vergleiche, Formulierungen eingefallen. Aber Prag ist schwieriger. Ich könnte eigentlich schreiben "beeindruckend schön" und die Fotos anhängen. Fertig. Ganz so einfach will ich es mir aber doch nicht machen.
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Der Faktor Zeit
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Im Gegensatz zu meinen sonstigen, flashmobartigen Überfällen auf europäische Städte, hatte ich in Prag geradezu unendlich Zeit: Einen Abend, einen ganzen Tag und dann noch Mal bis zum Nachmittag des nächsten Tages. Wobei das auch recht wenig mit meinen Bewertungen zu tun hat: In Brüssel war ich nur einen halben Tag und ich war trotzdem vollkommen euphorisiert.
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Und auch Prag ist nicht allzu groß, zumindest nicht das Sehenswerte. Und hier beginnt natürlich auch schon die Einschränkung: Mir hätte Prag sicher nicht so unglaublich gut gefallen, wenn ich durch die tristen Trabantenstädte am Ende der Stadt getrottet wäre. Da aber das sehenswerte Innenstadtviertel einen lange auf Trab hält, besteht dafür als Tourist auch überhaupt keine Not. .
Nur einmal, als wir auf der Suche nach dem Kafka-Grab waren, fuhren wir an den Rand des touristisch erschlossenen und sahen, wieviel noch vom tristen Post-Sozialismus übrig geblieben ist. Sonderlich beeindruckend war das nicht und so werde ich ausdrücklich nicht in Lobeshymnen auf Tschechien oder Prag als solches verfallen; anders als in Brüssel, das wirklich vor Geld und Wohlstand nur so strotzt, ist hier noch eine ganze Menge zu tun.
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Vorteile von Vorurteilen
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Und wo wir schon dabei sind, sollte man auch hier kritisch hinterfragen: Vielleicht war es der Umstand, dass ich mit so gut wie keinen Erwartungen an Prag herangegangen bin, dass ich ich so begeistert war. In verschiedenen Reiseforen hatte ich über die dramatische Sicherheitslage in Prag gelesen, dutzende von Einträgen beschäftigten sich mit ausgeraubten Touristen und warum man nie allein irgendwo hingehen sollte. Und auch die offiziellen Seiten im Internet halfen nicht viel solche Zweifel zu zerstreuen und waren eher "zurückhaltend" mit Information - und da darf ich mir als Macher der Online-Repräsentanz Koreas dann doch ein Urteil erlauben, da "Feindbeobachtung" auch zu meinen Aufgaben gehört und ich wenige Seiten von einigermaßen entwickelten Ländern gesehen haben, die schlechter aufgezogen sind. Dagegen ist unsere eigene Seite geradezu ein Wunderwerk der Information. Wie auch immer, man kommt mehr schlecht als recht informiert, eher mit Bedenken als mit großer Vorfreude an, überquert die Grenze aus dem auch schon nicht so schönen sächsischen Urwald und dann wird es erst einmal dunkel und noch menschenleerer.
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Die Einfahrt nach Prag vorbei an endlosen Trabantensiedlungen; man kommt sich vor wie in Seoul, nur dass man weiß, dass sich hier in den Plattenbauten wohl keine Flatscreens, automatische Müllschlucker und Roboterreinigungssysteme verstecken. Man steigt aus, kleiner Bahnhof, nicht schick, nicht abgewrackt, die Menschen nicht freundlich, nicht unfreundlich, der erste Penner zieht an einem vorbei und man hat den ersten Geruch von tschechischem Bier in der Nase; es gibt bessere Wege dafür.
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Nur einige Minuten später hatte Prag mich: Schweinebraten für 5 Euro, Geldwechseln ohne Gebühren und Beschiss auch noch um 23 Uhr und anschließend ein Hotelzimmer für 20 Euro die Nacht. Ein sauberes und recht schönes wie ich betonen möchte und man auch in den Fotos nachgucken kann. Sicher, den Aufzug hat Kafka noch persönlich gewartet und ich hab mir an der Dachschräge ständig den Kopf gestoßen, aber das sind kleinere Übel.
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Ein erster Spaziergang am Abend bei Eiseskälte und man macht Wow: Türmchen, Türmchen, Türmchen. Ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich architektonisch recht einfach gestrickt bin: Viele Türmchen, Erker und Balkone, leicht klassische Formen und schon hat man mich. Und Prag brauchte dafür eigentlich nur ein paar Minuten. An der Moldau entlang zum Theater, Blick auf den angestrahlten Burgberg und das nächste "Uff". Man vergisst die Kälte und fotografiert los. In die Stadt hinein, kleine Gässchen und dann der große Platz, zurück den Prachtboulevard, am Wenzelsplatz, Nationalmuseum. Vollgesogen mit Eindrücken und einem neuen Lieblingsgebäude auf der ganzen ganzen Welt (besagtes Nationalmuseum) fällt man irgendwann ins Bett.
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Am nächsten Tag Angst: Normalerweise haben Städte abends etwas viel Schöneres an sich als tagsüber, sodass durchaus Enttäuschungen entstehen, wenn man sie im Angesicht des Tages sieht. Doch auch davon war nichts zu spüren. Superleckeres Frühstück in einem Cafe, alle unglaublich freundlich, englischsprachig - man fühlt sich viel internationaler, viel willkommener als in so manchem westeuropäischen Land, dessen Bewohner sich zu fein sind, Englisch zu sprechen (ja, ich habe mein Trauma von Charles de Gaulle immer noch nicht verwunden).
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Gut, ich könnte jetzt natürlich noch erwähnen, dass Igor (den Namen haben wir ihm gegeben, in Wirklichkeit hieß er wahrscheinlich Wladislaw), frisch aus dem Knast und schon an unserer Hotel-Rezeption, auf unseren Hinweis, dass es kein Wasser gebe, nur müde sinngemäß antwortete, dass es ihn so ziemlich gar nicht interessiert. Naja. Bei 20 Euro Zimmerpreis und einem 2x2 Meter-Muskelpaket an der Rezeption reduziert sich das Bedürfnis nach Wasser und Morgen-Hygiene auch schnell.
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Was gibt es sonst noch an Postkartentexten abzuhandeln? Das Essen? Preiswert, aber nicht billig. Böhmische Küche besteht aus drei Hauptgerichten: Knödel mit Fleisch, Fleisch mit Knödeln und Fleisch mit Knödel und noch mehr Fleisch. Ansonsten haben die dort die leckerste Auswahl an Würstchen, die ich je gesehen habe. Im Supermarkt gibt es allein zwei ganze Theken für Würstchen. Das Bier ist objektiv gut, auch wenn es mir nicht schmeckt, weil es so sehr nach echtem Bier schmeckt (Cass und Hite haben bei mir jegliche Fähigkeit echtes Bier zu goutieren abgetötet).
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Wetter war auch gut, insbesondere durch Schnee werden alte Städte gleich noch viel romantischer und märchenhafter.
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Übrigens: Die Präsenz von koreanischen Firmen in Tschechien ist wirklich faszinierend. Die Prachtstraßen und wichtigen Alleen im Zentrum sowie hoch zum Burgberg sind allesamt nicht etwa mit tschechischen, sondern mit Samsung- und Hyundaifahnen geschmückt. Kein Witz. Und dabei gibt es in Prag m.W. nicht Mal ein eigenes Werk.
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Go East!
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Also alles in allem eine wunderbare Reise: Preiswert, viel zu sehen, freundliche Menschen, perfekt auf Tourismus eingestellte Innenstadt, gute Verpflegung, saubere Unterkünfte, preiswerter, effizienter Transport. Ich bin größtenteils von den doch eher grenzwertigen Erfahrungen in Polen bisher geheilt und habe einen ehemaligen Ostblock kennengelernt, der weltoffen, freundlich und serviceorientiert ist. Das macht Lust auf mehr. Nächste Ziele in Planung: Budapest und Tallinn.
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